Gedenktafel am Synagogenplatz – Ein Versprechen wird eingelöst.


Gedenktafel 2019

An einem Samstag, dem 5. November 1938, stand der Rabbiner der jüdischen Gemeinde von Tann, Heinrich Okolica, das letzte Mal in der Synagoge und übte sein Amt aus. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, dass nur wenige Tage später die Synagoge nicht mehr existieren sollte und er sich auf der Flucht vor dem Nazi-Regime befinden würde.

Heinrich Okolica wurde 1913 in Offenbach geboren. 1934 kam er als Religionslehrer nach Tann. Dort lernte er seine spätere Frau Lisbeth Jüngster kennen.

Sie wohnten, zusammen mit ihren Eltern Sally und Betty Jüngster, in der Kirchstraße 112 (heute Nr. 2). Lisbeths Eltern führten dort ein Manufaktur- und Modegeschäft.

Heinrich Okolica schreibt über die Ereignisse im November 1938 in der „Chronik der jüdischen Schule zu Tann (Rhön)“: „Am 7. November 1938, gegen 7 Uhr abends, kamen Braunhemden auf Fahrrädern (Nazis) aus dem Nachbardorf Günthers nach Tann, um die Kristallnacht zu beginnen. Erst wurden alle Juden verhaftet und in den Keller des jüdischen Gemeindemitgliedes Max Reinhold gebracht. Die Juden wurden durch die Straßen getrieben, mit Steinen beworfen und angespuckt…“

Weiter berichtet er, wie er entkommen konnte, als er verhaftet werden sollte. Er flüchtete zum Bahnhof und versteckte sich dort über Nacht. Am nächsten Morgen gelang ihm die Flucht nach Fulda mit Hilfe von zwei Bahnbeamten, die ihn in einem Zugabteil versteckten.

Im März 1939 konnte er endlich die nach England ausreisen.

Lisbeth, seine Verlobte, wanderte schon im Juni 1938 nach New York aus. 1940 kam Heinrich nach. Sie heirateten im darauffolgenden Jahr.

Sally und Betty Jüngster, die Eltern von Lisbeth, zogen 1939 nach Frankfurt am Main, in der Hoffnung, dort vor den Nazis sicher zu sein. Doch 1942 wurden sie nach Izbica deportiert und dort umgebracht.

In einem Interview sagte Okolica einmal:

“Gott hat sich um mich gekümmert.

Ich bin Deutschland nicht entkommen, um mein eigenes Leben zu leben.

Ich bin geflohen, weil Gott mir befohlen hat, sein Helfer zu sein. “

Die Eheleute Okolica ließen sich 1960 in New Britain nieder und bekamen dort einen Sohn und drei Töchter.

In seiner neuen Heimat war Henry Okolica ein hoch angesehener Rabbi, der sich für jedermann einsetzte.

Als 1978 Heinrich Okolica und seine Ehefrau Lisbeth ihre alte Heimat Tann nach genau 40 Jahren zum ersten Mal wieder besuchten, baten sie den damaligen Bürgermeister Karl Hilgen und den Pfarrer Johann Rüppel, eine jüdisch-christliche Feier auszurichten. Die Gemeinde erlebte in diesem Gottesdienst, dass der Rabbi im Zeichen der Versöhnung kam und nicht, um anzuklagen oder abzurechnen. Nach allem, was Heinrich Okolica und seine Familie während der NS-Zeit hier in Deutschland erleben mussten, war das keine Selbstverständlichkeit.

1991 besuchte Heinrich Okolica erneut die Stadt Tann, um die neu gestaltete Gedenkstätte am Synagogenplatz zu besichtigen und zu segnen. Er bedankte sich bei Bürgermeister Herchenhan und bei Pfarrer Rüppel, die sich dafür eingesetzt hatten, den Gedenkstein für die ehemalige jüdische Kultusgemeinde zu errichten. Dabei wurde ihm versprochen, die Namen der ermordeten jüdischen Mitbürger auf einer gesonderten Tafel zu verzeichnen.

Bei diesem Anlass übergab Rabbi Okolica dem Bürgermeister die Kopie der „Chronik der jüdischen Schule zu Tann (Rhön)“, die er bei seiner Flucht aus Deutschland retten konnte. Dieses überaus wichtige Zeitdokument wurde 1997 veröffentlicht.

Noch ein letztes Mal besuchte Rabbi Henry Okolica mit seiner Frau, einigen Kindern, Enkeln und Urenkeln im Jahr 2000 Tann. Heftig waren dabei die Erinnerungen an die Ereignisse während der NS-Zeit. In Tann habe er die Liebe seines Lebens kennengelernt, aber auch Fürchterliches erlebt.

In einem Zeitungsinterview sagte er damals.

„Liebe ist stärker als Rache – Vergeben kann ich, vergessen aber nicht.“

Lisbeth Okolica verstarb 2014 im Alter von 95 Jahren.

Am 25. September 2017, im Alter von 103 Jahren, verstarb der letzte Rabbiner von Tann, Henry Okolica.

Gedenkfeier 09. November 2021, Foto: A. Dänner

In Erinnerung an die in Vernichtungslagern ermordeten jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen aus der Stadt Tann (Rhön) hat der Kultur- und Geschichtsverein der Region Tann (Rhön) e.V. eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer gestaltet. Sie wurde am 11. November 2018, anlässlich der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht, am Platz der ehemaligen Synagoge enthüllt.

Der Kultur- und Geschichtsverein der Region Tann(Rhön) e.V. erfüllt damit das Versprechen, welches Henry Okolica einst 1978 gegeben wurde.